Rede I. K. H. Kronprinzessin Victoria von Schweden am Volkstrauertag

Deutscher Bundestag, Berlin

Herr Bundespräsident, Frau Vize Bundestagspräsidentin,
verehrte Mitglieder des Deutschen Bundestags, meine Damen und Herren,

es ist mir eine große Ehre, diesen deutschen Gedenktag für die Opfer von Gewalt und Krieg mit Ihnen begehen zu dürfen.

Man kann sich kaum einen würdigeren Ort vorstellen, sich zu versammeln als hier. Dieses Gebäude hat in der dramatischen Geschichte Deutschlands eine so wichtige Rolle gespielt. Heute symbolisiert es das moderne und demokratische Deutschland.

Für mich persönlich ist dies ein wichtiger Augenblick. Meine starken familiären Bindungen zu Deutschland und alles Deutsche sind seit meiner Kindheit feste Bestandteile meines Lebens. Meine Gefühle für Deutschland sind innig und tief.

Auch für mich als Kronprinzessin und Repräsentantin des Königreichs Schweden ist dies ein bedeutender Moment.

Die Beziehungen zwischen meinem Land und Deutschland sind vielfältig, stark und reichen weit in die Geschichte zurück.

Gleichwohl waren sie in der Geschichte nicht immer friedlicher Natur. Daran sollten wir uns mit Demut erinnern, besonders an einem Tag wie diesem.

Vielleicht kennen einige von Ihnen noch das alte Kinderlied „Bet't Kinder, bet't / Morgen kommt der Schwed“ aus dem Dreißigjährigen Krieg. Als Schwedin ist mir bewusst, dass dieser Krieg lange als deutsche Ur-Katastrophe betrachtet wurde.

Im Jahr 1813 standen schwedische Truppen noch einmal auf deutschem Boden. Mein Vorfahr, Kronprinz Karl Johan, führte die Nordarmee aus Preußen, Russen und Schweden gegen das große Heer von Kaiser Napoleon an. Und obwohl Schweden zu den Siegern zählte, war die Zeit als Großmacht vorbei. Ganz bewusst wurde in Schweden der Grundstein für eine historische Zeitenwende gelegt.

Was wir an Macht und Ruhm verloren, gewannen wir in Form von mehr als zweihundert Jahren Frieden und schließlich unseres eigenen Wirtschaftswunders zurück.

Mein Land ist von Natur aus eng mit Deutschland verbunden. Seit fast eintausend Jahren gibt es starke kulturelle, sprachliche und wirtschaftliche Verbindungen über die Ostsee hinweg. Wir wurden gemeinsam von der Hanse, der Reformation und der Industrialisierung geprägt.

Der Zweite Weltkrieg veranlasste Schweden, sich von einem Großteil seines deutschen Erbes zu distanzieren. Doch seit die demokratische und wiedervereinte Bundesrepublik zu einem Stabilitätsanker für die Europäische Union geworden ist und Schweden Mitglied der EU ist, sind wieder enge Beziehungen zwischen unseren Ländern entstanden. Und heute sind wir zu unserem Glück vereint.

Hieraus können wir wichtige Lehren ziehen: Wie Länder und Völker in der Nähe zueinander und an dieser Nähe wachsen können. Wie wichtig der freie Fluss von Kultur und Ideen ist. Und wie viel auch plötzlich verloren gehen kann.

 

Meine Damen und Herren,
kaum jemand weiß mehr über die Zerbrechlichkeit einer Zivilisation als das deutsche Volk.

Kaum jemand kennt den Unterschied zwischen Frieden und Krieg, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen Hoffnung und Abgrund, zwischen Normalität und Katastrophe besser. Aber auch ich habe dies nicht nur aus Büchern gelernt. Indem ich meiner Mutter und den Erzählungen über das Schicksal ihrer Familie zuhörte, bekam ich zumindest einen Bruchteil dieser bitteren Erfahrung vermittelt.

Die deutsche Erfahrung mag einzigartig sein, enthält aber Erkenntnisse, die weit über sie hinausreichen. Eine davon ist, dass Frieden und Freiheit keine Naturgesetze sind, ein für alle Mal gegeben. Sie sind ein Gut, das zerbrechlicher ist, als wir denken, und für das sich jeder von uns einsetzen muss; im Großen wie im Kleinen. Wir tun dies jeden Tag, indem wir Rücksicht nehmen und Respekt zeigen; als Staaten, indem wir unsere demokratischen Gesellschaftsordnungen und das Prinzip verteidigen, dass Recht vor Macht geht.

Ich sage das mit großem Ernst, denn wir versammeln uns hier in ernsten Zeiten.

 

Meine Damen und Herren,

Die Menschheit steht vor Herausforderungen, die immer schwieriger und dringlicher werden. Die Stimmung in der Welt ist so eisig wie seit langem nicht mehr. Die groß angelegte russische Invasion in der Ukraine bedroht den Frieden auf unserem

gesamten Kontinent, erschüttert die Grundfesten der Weltordnung und verursacht unermessliches menschliches Leid. Seit 633 Tagen werden Städte und Gemeinden zerstört, Hunderttausende Menschen getötet und Millionen vertrieben. Es ist ein Krieg, der uns an die dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte erinnert.

Hinzu kommen die Entwicklungen im Nahen Osten nach den schrecklichen Angriffen der Hamas auf israelische Zivilisten. Wir sehen entsetzliche Bilder aus Gaza mit großem menschlichen Leid. Natürlich hat auch Israel das Recht, sich in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu verteidigen. Der Schutz aller Zivilisten, sowohl in Israel als auch in Gaza, muss garantiert und das humanitäre Völkerrecht respektiert werden. Zu jeder Zeit, unter allen Umständen.

 

Werte Mitglieder des Deutschen Bundestags, meine Damen und Herren,

meine Generation ist mit dem Fall der Mauer aufgewachsen. Ich wünschte, der Optimismus, der damals alle erfüllte, könnte die Welt auch weiterhin prägen.

Es gibt ein Wort, dessen Bedeutung ich am anschaulichsten von meinem Vater gelernt habe: Pflicht. Aber die Pflicht hat auch eine schöne Seite. Sie gibt uns die Möglichkeit, Teil von etwas zu werden, das viel größer ist als wir selbst.

Der Schwede Dag Hammarskjöld, ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen, schrieb einst folgende Zeilen: „Der Weg der anderen hat Rastplätze in der Sonne, wo sie sich treffen / Aber dies ist dein Weg / und jetzt, jetzt darfst du nicht scheitern. / Weine, wenn du kannst, weine, / aber klage nicht. / Der Weg hat dich gewählt – und du solltest dankbar sein.“

 

Meine Damen und Herren,

Wir müssen gemeinsam Verantwortung übernehmen. Wir dürfen niemals die Lehren aus den Schrecken von Krieg und Tyrannei vergessen. Und es ist wichtig, unsere Kinder und Jugendlichen daran zu erinnern, dass aus den schwierigsten Erfahrungen eine Kraft zur Veränderung erwachsen kann.

Dies ist eine Zeit wichtiger Entscheidungen. Eine Zeit der Prüfungen. Aber auch eine Zeit der Chancen.

Da unsere Völker und Regierungen gemeinsam handeln, um dem ukrainischen Volk zu helfen, sich gegen die russische Aggression zu wehren, bin ich überzeugt, dass unsere Bemühungen Früchte tragen werden.

Es ist eine Quelle der Hoffnung, dass die Regierungen und Völker im demokratischen Europa in einer schweren Zeit zusammenhalten.

Die deutsche Erfahrung zeigt, dass es möglich ist, selbst die dunkelste Vergangenheit zu überwinden.

Heute ist Deutschland ein Land, auf das wir Schweden blicken, wenn es um die gemeinsame Aufgabe geht, ein Europa des Friedens und der Freiheit zu errichten.

Unsere Länder sind in einer Wertegemeinschaft vereint, in unserem Verständnis von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, in unserem europäischen und internationalen Engagement. Und wir stehen heute noch enger zusammen als früher. Seit Februar 2022 benutzt die Welt das Wort ‚Zeitenwende‘. Auch Schweden erlebt gerade eine solche Zeitenwende und mit seinem Beitritt zur NATO die größte sicherheitspolitische Veränderung seit den Napoleonischen Kriegen.

Europa kommt jetzt zusammen, um sich den Herausforderungen zu stellen, vor denen unser Kontinent steht. Gleichzeitig müssen die großen Fragen der Zukunft angegangen werden wie Umwelt- und Klimaschutz sowie Möglichkeiten und Risiken neuer Technologien. Dies wird außergewöhnliche Anstrengungen erfordern.

Aber ich bin überzeugt, dass diese Anstrengungen unternommen werden und dass die schwedisch-deutsche Zusammenarbeit in dieser neuen Ära noch weiter ausgebaut wird.

Lassen Sie uns gemeinsam dazu beitragen!

Danke.